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MayDayAm Anfang war das Schweigen, am Ende ein Mord, der fassungslos macht. Ein Kind tötet ein Kind. Das ist der Stoff von MayDay, einem Stück der französischen Autorin Dorothée Zumstein, das am Theater Freiburg seine deutsche Erstaufführung erfährt.

Gedämpftes Licht, in der Mitte der Bühne ein Sofa, darauf sitzend eine Frau Anfang vierzig, die fern sieht und strickt, vor ihr eine Tasse Tee, Blumen in einer Vase auf dem Beistelltisch. Spielzeug liegt herum. Ein normaler Abend, eine durchschnittliche Familie. Das zumindest ist das Bild, das Kate (Marieke Kregel) vermitteln möchte.

Aber dies ist keine normale Familie und kann niemals eine sein. Denn Kate hieß nicht immer so.

Dreißig Jahre zuvor war sie Mary, genannt May und tötete im Alter von zehn Jahren zwei Kleinkinder in der heruntergekommenen Sozialsiedlung, in der sie aufgewachsen war.
May hat es tatsächlich gegeben. Das Stück basiert auf dem Fall der May Bell, die 1968 in Newcastle zwei Jungen aus ihrer Nachbarschaft erwürgte.

Obwohl dem Stück ein realer Fall zugrunde liegt, hat es nichts dokumentarisches, es erinnert vielmehr an die klassische griechische Tragödie oder ein Drama von Shakespeare. Das liegt zum einen am Stoff und den grundsätzlichen, überzeitlichen Fragen, die das Stück verhandelt, in erster Linie jedoch an der Inszenierung von Bastian Kabuth, in der nicht nur die Geister der Vergangenheit leibhaftig werden, sondern die auch sonst von Bildern, Allegorien und Verweisen durchzogen ist.

Die Geister aus Kates Vergangenheit sind auf der Bühne des kleinen Hauses von Beginn an präsent. Drei Frauengestalten hocken im dunklen Hintergrund. Hinter ihnen erhebt sich schwarz und abweisend eine Doppeltür, die an Kafka denken lässt.
Türen sind auch im Stück selbst ein zentrales Symbol. Türen, die nicht geöffnet werden können, weil die Abgründe, die sich dahinter verbergen zu tief sind. Türen, die sich - einmal geöffnet - nie wieder schließen lassen. Sie bilden gleichsam die Klammer, die die Geschichten der Frauen verknüpft.

Kalte Herzen

Da ist zunächst Kate, lange erwachsen, verheiratet, Mutter einer Tochter, für deren Schulfest sie Kuchen backt. Kate, die äußerlich ruhig wirkt, aber deren Albträume und Geister sich auch durch Tabletten nicht vertreiben lassen. Und weil die Vergangenheit nicht ruhen kann, weil die Türen sich nicht schließen lassen und auch weil - trotz neuer Identität - Journalisten Kate und ihre Familie immer wieder aufspüren, beschließt sie, einem von ihnen (Tim Al-Windawe) ein Interview zu geben, um von ihrer Tat und dem, was davor geschah, zu berichten.
Dieses Interview bildet den Rahmen, in dem die drei Figuren aus der Vergangenheit auftreten.
Sie füllen die Leerstellen in Kates Erinnerungen. Sie tun dies nicht nur indem sie die Fakten ergänzen, sie ergänzen vor allem die Emotionen, die Kate genauso unzugänglich sind wie Teile der eigenen Geschichte.

Die zehnjährige May (Anne Langer) hat Schreckliches erlitten und Schreckliches getan. Sie wurde vernachlässigt, von der eigenen Mutter gequält und an alte Männer verkauft. Und sie wurde selbst zur Mörderin zweier kleiner Kinder, die sich mit ihrer Tat brüstet. Trotzdem erscheint sie weder als Täterin noch als Opfer. Obwohl sie lacht und ihre Augen leuchten, wenn sie den Mord am kleinen Martin schildert, wirkt sie nicht diabolisch. Man möchte sie nicht verdammen, genauso wenig allerdings möchte man sie beschützen, wenn sie von den Misshandlungen durch die Mutter erzählt.

Die Mutter ist Betty (Laura Angelina Palacios), im transparenten Kleid und mit riesenhafter blonder Perücke, von der man sich gut vorstellen kann, dass sie „ein Eigenleben führte“, wie May einmal sagt. Betty findet nach dem Tod des Vaters beim Tanzen in Nachtlokalen Freiheit und Erlösung von der Strenge und den Strafen ihrer religiösen Mutter. Als sie mit siebzehn May zur Welt bringt, hasst sie dieses Kind, das ebenso schön ist wie sie selbst und sie mit den eigenen blauen Augen anblickt. Sie spielt mit May, lockt sie und verstößt sie, wie die Männer mit denen sie sich herumtreibt und an die sie ihren Körper verkauft.

Die ererbte Sünde

Die dritte Figur bleibt lange im Hintergrund, in tiefen Schatten verborgen. Mays Großmutter Alice, die Mutter von Betty. Sie trägt ein hochgeschlossenes, graues Kleid zum strengen Dutt. Eine untadelige Frau. Fromm, treue Gattin bis zum Tod des Mannes, danach Ernährerin der Familie, gestraft mit einer renitenten Tochter, der sie durch Schläge den Teufel austreiben will.
Sie ist die Wahrerin des Geheimnisses, das am Anfang der Geschichte steht. Alice ist es, die die Tür zum Schlafzimmer nicht öffnen kann, hinter der ihr Mann die eigene Tochter missbraucht. Ein heftiger Schmerz im Arm hindert sie.

Es ist der gleiche Schmerz, der Jahre später Kate befällt, wenn sie im Traum versucht, die Tür gegen den Wind der Vergangenheit zu schließen.
In MayDay gibt es zahllose dieser wiederkehrenden Symbole, die die Geschichten der drei Frauen so unauflöslich miteinander verweben, dass alles was danach passiert zwangsläufig erscheint.
So wird - wie in der griechischen Tragödie - die Frage nach individueller Schuld sinnlos. Der Vater, der Täter ist tot. Männer sind überhaupt abwesend in diesem Stück.
Die Frauen wirken wie Schiffbrüchige, die tun, was sie tun müssen, um zu überleben und dabei das Trauma weitergeben. Ist das vorwerfbar?
Hätte Alice alle späteren Unglücke verhindern können, wenn sie geredet hätte?

Mayday ist kein Stück, das den Zuschauer hineinreißt in die Abgründe, die sich vor ihm auftun. Die Inszenierung bleibt auf Distanz, die Figuren sind mehr Allegorien als Individuen. Gerade dadurch aber entsteht der Raum, in dem der Zuschauer sich selbst nachspüren kann.

Weitere Aufführungen:
21.05.18, 31.05.18, 19.06.18; Kleines Haus

Anna Elisabetha Weber

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